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Das Giacometti-Werk kontextualisieren

Bei der Entwicklung der Idee für ein neues permanentes Museumsangebot im Bergell, das den Persönlichkeiten der Familie Giacometti gewidmet sein soll, haben sich die Amici del Centro Giacometti zuerst gefragt, wie die enge Beziehung zwischen den Lebensläufen und das Werk der Künstler und der Geschichte, der Natur und der Geographie des Tals dargestellt werden kann; wie können einzelne, ausserordentliche Hauptstränge in ein Netz von Menschlichkeit und Natur eingefügt werden? Das eigene Aktivitäts- und Forschungsfeld auf Themen zu beschränken, die direkt und ausschliesslich die Künstler berühren, wäre ein konservativer Ansatz, welcher das echte Potenzial des Bergells ausser Acht lassen würde. Tatsächlich ist die Kontextualisierung des Giacometti-Werks, das weiter geht als die blosse Präsentation von Standorten und Werken, das exklusive Element, das in Wert gesetzt werden soll. In den vergangenen zwei Jahren haben die Amici Machbarkeitsstudien und Dokumentationsarbeiten im Feld umgesetzt, welche als konzeptuelle Grundlagen nun die Planung des Centro Giacometti ermöglichen.

Ein Beitrag von Marco Giacometti, Guido Mazzoleni, Diego Mometti, Andrea Fenoglio und Roberto Sarfatti

Das Leben der Giacometti im Bergell
Giovanni, Augusto und Alberto Giacometti sind im Bergell geboren und aufgewachsen. Hier haben sie zeitlebens gewirkt. Zusammen mit den anderen bedeutenden Persönlichkeiten der Familie sind sie in ihre Heimat zurück gekehrt, um die letzte Ruhestätte zu finden. Ihr Werk umfasst Hunderte Bilder, welche die Landschaft und die Berge ihres Tals darstellt, aber auch Menschen an der Arbeit und im häuslichen Umfeld. Es handelt sich dabei um ein einmaliges Kulturgut, zumal die berücksichtigte Zeitperiode lang ist (von 1890 bis 1965).
Im Bergell sind die Geburts- und Wohnhäuser der Künstler, die Spielplätze, die Schule, das Restaurant Piz Duan, das Atelier von Giovanni und Alberto, Augustos Arbeitszimmer, die Staffeleistandorte bedeutender Bilder, die Bildersammlung im Talmuseum Ciäsa Granda und die Werke in den Krischen San Giorgio und San Pietro, der Friedhof mit den Gräbern...

Die echte Gelegenheit
Die Amici wollen das derzeit ausgefranzte und fragmentierte Netz von Gedächtnisorten in Erscheinung treten lassen; jene Räume virtuell wiederherstellen, die nicht zugänglich sind (die Häuser der Künstler, das Dorfrestaurant), die Zentren des täglichen Lebens der Künstler in ihrer Umwelt neu interpretieren und damit die historische und kulturelle Bedeutung des Tals zum Auftauchen bringen.
Eine Art Pilgerstätte zum Geburtsort zu realisieren ist aber keine starke Idee, die sich als Ausgangspunkt für ein attraktives museales Angebot eignet. Dies würde bedeuten, auf die echte Gelegenheit des Bergells zu verzichten: jene nämlich, eine Interpretationsgrundlage für das Künstlerwerk zu schaffen, welche ihre Emotionen, ihr Denken und ihre Arbeit mit der Familie, den Leuten und der Landschaft des Tals zu verbinden.

Kontext, nicht Vorwand
Kontextualisieren heisst den Inhalt durch die Erläuterung der Quellen, der Andeutungen und sogar der künftigen Interpretationen zu erweitern. Die Giacomettis zu kontextualisieren bedeutet, über die Leute des Bergells zu sprechen: ihre lateinischen Wurzeln, ihre kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen auf kontinentaler Ebene. Seit der Römerzeit spielte die Nord-Süd-Transitachse durch das Bergell eine ausserordentlich bedeutende Rolle; die Bergeller sind geschlossen der Reformation gefolgt, sie haben konfessionelle Flüchtlinge aus der Lombardei aufgenommen; später sind zahlreiche von ihnen als Zuckerbäcker ausgewandert und haben sich für die verschiedenen europäischen Kulturen geöffnet. Beispiele dieser Mobilität und Anpassungen finden wir gerade auch bei den Künstlern selbst oder in ihrer nahen Verwandten.
Die Giacomettis im Bergell zu kontextualisieren bedeutet aber auch, über die ärmliche Bauernwirtschaft zu sprechen, denken wir an Augustos Familie. Von einer Bevölkerung zu sprechen, die erst spät den Schritt in die Industrialisierung vollzogen hat, eigentlich erst mit der Realisierung der Wasserkraftwerke durch die Stadt Zürich gegen Ende der Fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Die Rolle der Bildung
Das Künstlerwerk in einen Kontext zu stellen bedeutet auch, die Geschichte einer Familie zu rekonstruieren, die Giacometti, ursprünglich ein Mailänder Geschlecht, welches sich zunächst in Vicosoprano und erst danach in Stampa niederliess. Diese Familie, die gerade in Stampa im Jahr 1856 ein Zeichnungslehrer hervorbrachte, Zaccaria Giacometti. Zaccaria sen., Vater jenes Juristen, der später als Professor für Verfassungsrecht an der Universität Zürich Karriere machen sollte, hat in der Tat den jungen Giovanni und Augusto das Zeichnen und die Malerei näher gebracht. In einem kleinen Bergdorf hat er ihnen damit den Weg für eine bedeutende Künstlerlaufbahn eröffnet.
Von schulischer und elterlicher Bildung am Übergang vom 19. Zum 20. Jahrhunderts zu sprechen trägt dazu bei, in einer reformierten und offenen Talschaft jene Haltung zu erfassen, welche die Entwicklung starker Charaktere und Persönlichkeiten mit einem starken Drang zur Arbeit und zum Weiterkommen fördert. Das Werk dieser Persönlichkeiten wird so zum Kulturgut der ganzen Welt, hat aber seine Wurzeln im Bergell und es deutet und stellt seine Seele dar.

Landschaft und Gebirge
Gerade im Fall von Zeichnern, Malern und Plastikern vermag aber das gesellschaftliche und wirtschaftliche Umfeld nur zum Teil ihre Vorstellungswelt zu erklären. In der Tat berichten sowohl Giovanni, Augusto als auch Alberto in ihren Schriften von an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten erlebten konkreten Gegebenheiten, welche Ausgangspunkt für ein bestimmtes Werk oder einen Entwicklungsschub waren.
Künstlerwerke mit der Landschaft und der geologischen Natur im Bergell zu verbinden stellt ein weiteres und innovatives Instrument für die Interpretation des Werkes dar. Die Bergeller Gegend, welche Künstler zu ihren Werken inspiriert hat, kann gleichzeitig als geomorphologische Landschaft gelesen werden. Hier haben die Erdwissenschaften eine Geschichte zu erzählen, welche sich für jedes Publikum eignet: Dichter, Fotografen, Bergsteiger, Kunstliebhaber, Forscher, Wanderer.
Themenwege entlang ausgewählter Routen, welche der Natur und der Landschaft gewidmet sind und welche als kohärentes Netz organisier sind, bieten die Gelegenheit, ein reelles „Wandermuseum unter freiem Himmel“ zu besuchen. Die Informationen im Feld lesen zu lernen bedeutet der kürzeste Weg, um unser Natur- und Kulturgut kennen und schätzen zu lernen. Ein museales Angebot zu schaffen, welches das Werk der Künstler der Familie Giacometti in enger Verbindung mit der Landschaft und den Bergen bringt, ist eines der Schlüsselelemente des zukünftigen Centro Giacometti.

Die Positionierung des Centro Giacometti
Das Centro Giacometti positioniert sich als Gedenkstätte und als Interpretationszentrum. Ein neues permanentes Museumsangebot muss den Giacometti-Interessierten, auf der Grundlage immaterieller und landschaftlichen Werte, neue Instrumente zum besseren Verständnis des Werkes zur Verfügung stellen. Nebst der integrierten Charakterisierung der Biographien ist es notwendig, eine systematische Analyse des Bergeller Giacometti-Werks vorzulegen und es im Kontext darzustellen. Die Orte zu erfahren, in welchen die Vorstellungswelt der Künstler entstanden ist, ist ein grundlegendes Element zur Vervollständigung einer interpretativen und vergleichenden Wissenskette, und dies ist nur in Stampa und im Bergell möglich.

Centro Giacometti als Auslöser von Ideen und Perspektiven für die Talentwicklung
In diesem Projektjahr haben sich die Amici mit einem Ausstellungskonzept auseinandergesetzt, das sowohl mitreissend als auch künstlerisch überzeugend sein kann. Welches die Vermittlung eines reichen immateriellen Kulturguts, aus Geschichten, Landschaften und Tönen, verborgenen und intimen Umwelten, neu interpretieren kann.
Eine multimediale Ausstellung, welche das Leben und das künstlerische Suchen der Giacometti beschreibt und welche gleichzeitig auch die Besuchenden zu unmittelbaren Zeugen eines Jahrtausende altes kulturelles und gesellschaftliches Lebens im Tal macht, von Gesichtern und Geschichten seiner Bewohnern, seiner Landschaften, seiner noch intakten Natur, die neue Blickwinkel auf dieses oder jenes Thema eröffnet, um ein tieferes Verständnis zu ermöglichen. Gerade dieses Verhältnis kann als das Kernelement des neuen multimedialen Museums bezeichnet werden (in diesem Zusammenhang die kurzen Filmbeiträge anschauen, welche die Möglichkeiten von filmisch dokumentierten Zeitzeugnissen veranschaulichen).


Ein neues Angebot zur Wiederbelebung des Bestehenden

Ein Gesamtpaket von Themen zu präsentieren, welches das Werk und das Leben der Giacometti zur Geltung bringen, schafft Chancen für die heute im Bergell bereits bestehenden kulturellen Angebote. Die multimediale Präsentation im Centro Giacometti ersetzt nämlich die gegenständlichen Ausstellungen der Ciäsa Granda oder des Palazzo Castelmur, sondern wertet sie auf. Geschichten von Bergen, Höhlen, Tieren, Auswanderern weckt bei den Besuchenden die Lust, jene Museen zu besuchen, welche Gegenstände und Dokumente zeigen. Die Giacometti-Landschaften zu erleben, die Künstler in ihrer Heimat zu sehen, die Jahreszeiten, das Licht und der Schatten zu erleben, Berge zu besteigen, dem fliessenden Wasser zuzuhören, Schmetterlinge zu entdecken, die Geschichten unserer Leute kennen zu lernen… das ist das Wesen des Centro Giacometti.
Die Eigentümlichkeiten der einzigartigen Inhalte und die innovative Art, diese zu erzählen, kann ein wirksamer Auslöser für eine kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung eines Tals sein, welches seine neue Zukunft sucht.

Augusto-Biografie

Geschichte des Muretto

Alberto, neuer Fotoband

Leggere la Bregaglia

Zaccaria Giacometti

Frühgeschichte Bergell

Künstlerdynastie

 

Giacometti Art Walk

Linea Centro Giacometti

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Statements

Christoph Beat Graber

Ich denke, dass Ihr Projekt einen wichtigen Beitrag leisten könnte, eine Art von Tourismus ins Bergell zu locken, der zum Tal passt und seine nachhaltige Entwicklung fördert.
Prof. Dr. jur. Christoph Beat Graber, Leiter der Forschungsgruppe Grenzüberschreitendes Kommunikations- und Kulturrecht der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern, 18. Juli 2011